Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gulnaz Sibgatullina, Leiden

 

Stephane A. Dudoignon / Christian Noack (eds.): Allahs Kolkhozes. Migration, De-Stalinisation, Privatisation, and the New Muslim Congregations in the Soviet Realm (1950s – 2000s). Berlin: Schwarz, 2014. 541 S., zahlr. Abb., 10 Ktn. = Islamkundliche Untersuchungen, 314. ISBN: 978-3-87997421-4.

Dieses Werk vereinigt elf Fallstudien von Autorinnen und Autoren aus Russland, Aserbaidschan, Usbekistan, Tadschikistan, Deutschland und Frankreich, die die Entstehung der ländlichen islamischen Gemeinden (jamaat-i islami) in sowjetischen Kolchosen, vor allem in den letzten Jahren der Perestroika, untersuchen. Eine Schlüsselfrage ist, inwieweit die sowjetische „soziale Ingenieurskunst“ (social engineering) Dörfer mit muslimischer Bevölkerung beeinflusste; dabei stellt sich heraus, dass die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die das sowjetische Modernisierungsprogramm gebracht hatte, die Stellung der islamischen Gemeinden in den Kolchosen verstärkten.

Die gemeinsame Methode ist die mikrogeschichtliche Untersuchung von Kollektivwirtschaften im Kaukasus, in Zentralasien und in Russland, die vor allem anhand von mündlicher Überlieferung durchgeführt wird, soweit möglich ergänzt durch Archiv- und Druckquellen. Untersucht wird die Entwicklung der religiösen Praxis, auch vor dem Hintergrund der sowjetischen Zwangsumsiedlungen von Gemeinden aus den Bergen in die Ebene (v.a. in Tadschikistan und Dagestan), in der Stagnationsperiode und während des Zusammenbruchs des politischen und sozialen Umfelds in der späten Sowjetunion. Ebenfalls zentral ist die komplexe Wechselwirkung zwischen den offiziellen muslimischen Geistlichen und den vom Staat nicht anerkannten islamischen Institutionen in den Gemeinden. Die hier angebotenen Fallstudien aus mehreren Regionen erlauben Rückschlüsse auf die Entwicklung des Islams in größeren Zusammenhängen der sowjetischen und post-sowjetischen Geschichte.

Deutlich wird aus diesem Werk, dass der Islam in einer dynamischen Wechselwirkung mit dem sowjetischen System stand. Auffallend ist, dass die „Wiederbelebung“ (oder Transformation) des Islams in der UdSSR seit den achtziger Jahren nicht, wie in West-Europa, vor allem von den Städten ausging, sondern von den ländlichen Gemeinden. Stéphane A. Dudoignon und Sayyid Ahmad Qalandar zeigen dies mit dem Beispiel der Sovchose Turkmenistan im Wachsch-Tal Tadschikistans, die durch Zwangsumsiedlung aus den Bergen aufgebaut wurde und in der die Entwicklung privaten Unternehmertums das Aufblühen alternativer islamischer Netzwerke ermöglichte. Diese Netzwerke umfassten Gelehrte und Studenten verschiedener Ethnien. Ariane Zevaco und Beate Gieh­ler zeigen ebenfalls am Beispiel Tadschikistans , dass die aufkommenden islamischen Institutionen und die damit verbundene gemeinsame wirtschaftliche Tätigkeit der Moscheengemeinden deren Mitgliedern eine Möglichkeit boten, sich der staatlichen Integrationspolitik und der antireligiösen Propaganda zu widersetzen.

Dabei wurden die Kolchosen auch zu Orten des traditionellen religiösen Lehrbetriebs. Wie Bakhtiyar Babadjanov in seiner Untersuchung des Dorfes Khojawot in Usbekistan zeigt, hatten viele junge ländliche Migranten keinen Zugang zu einer weltlichen Schule und sahen deshalb inoffizielle religiöse Bildung in den Gemeinden als Mittel, um einen bestimmten Sozialstatus zu erreichen. Der Erfolg dieser ländlichen Schulen hing dabei ab vom Ansehen und Charisma der individuellen Lehrer, wie Ashirbek Muminov anhand von Biografien zweier alternativer islamischer Gelehrter zeigt, die nicht nur die religiösen, sondern auch die wirtschaftlichen Praktiken der „Lenin“-Sowchose in Zhartï Töbe (Kasachstan) beeinflussten.

Eine wichtige Inspirationsquelle für die in diesem Band versammelten Studien, so die Herausgeber (S. 30), sind die langjährigen Forschungen Vladimir Bobrovnikovs zu Berggemeinden in Dagestan. Bobrovnikovs Beitrag zum vorliegenden Band bietet eine historische Analyse des islamischen religiösen Lebens in einem dagestanischen Bergdorf (Khushtada) und seiner Satellitensiedlungen, wobei er zeigt, wie durch die Schwäche staatlicher Institutionen den religiösen Gemeinden auch eine politische Rolle zukam.

Aus vielen Studien wird deutlich, dass der islamische Aufschwung der 1990er Jahre nicht als eine Rückkehr zu den vorsowjetischen Traditionen betrachtet werden kann. Diese Traditionen waren schon im Zuge der sowjetischen Transformation und Repression in den 1920er bis 1940er Jahren zerstört worden. Der neue Boom muss stattdessen aus der Entwicklung der Kolchos- und Sovchosgemeinden heraus erklärt werden. Wie Bobrovnikov hervorhebt, waren die Kollektivwirtschaften nicht identisch mit den jamaats, aber sie lieferten die Mittel für deren Existenz. Dass geographische, demographische und wirtschaftliche Besonderheiten einer Region von Bedeutung sind, hebt auch Rufat Sattarov in seiner Studie zum schiitischen Dorf Nardaran bei Baku hervor. Die islamischen Netzwerke, die in diesen Analysen nachgezeichnet werden, zeigen deutlich, dass die althergebrachte analytische Scheidung zwischen einem „offiziellen“ sowjetischen Staatsislam und der „inoffiziellen“, „illegalen“ Dorfgeistlichkeit nicht weit führt: Viele Lehrer und Studenten spielten gleichzeitig in „offiziellen“ und „inoffiziellen“ Gruppen eine Rolle.

Der Ansatz der Untersuchung von islamischen Gemeinden im Rahmen des Kolchos-Systems ist neu und überzeugend; in manchen der Beiträgen führt dies allerdings zu einer Masse an Detailinformationen, welche die großen Linien, die in Stéphane A. Dudoi­gnons und Christian Noacks Einleitung gut herausgearbeitet wurden, nicht immer erkennbar machen. Eine Frage, die nach der Lektüre bleibt, ist schließlich die, wie repräsentativ die hier vorgestellten Fallstudien sind; sie sind natürlich ausgewählt worden, weil sich dort ein besonders reiches islamisches Gemeindeleben entwickelt hatte. Diese kritischen Bemerkungen mindern keinesfalls die Bedeutung dieses Bandes für unser Verständnis der Entwicklung des Islams nicht nur in den einzelnen Regionen und Republiken, sondern in der Sowjetunion im Ganzem.

Gulnaz Sibgatullina, Leiden

Zitierweise: Gulnaz Sibgatullina, Leiden über: Stephane A. Dudoignon / Christian Noack (eds.): Allah’s Kolkhozes. Migration, De-Stalinisation, Privatisation, and the New Muslim Congregations in the Soviet Realm (1950s – 2000s). Berlin: Schwarz, 2014. 541 S., zahlr. Abb., 10 Ktn. = Islamkundliche Untersuchungen, 314. ISBN: 978-3-87997421-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sibgatullina_Dudoignon_Allahs_Kolkhoses final.html (Datum des Seitenbesuchs)

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